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Im Weinberg des Textes


Im Weinberg des Textes, Ivan Illich

Als das Schriftbild der Moderne entstand  |  Ein Kommentar zu Hugos »Didascalicon«  |  herausgegeben von Freimut Duve  |  aus dem Englischen von Ylva Erikksson-Kuchenbuch  |  Luchterhand Essay  |  1991  |  ISBN 3-630-87105-4

Bibliophilie, die Zeit des »bookish«, geht nach 800 Jahren zu Ende. Das Buch ist nicht weiter Grundlage des Bildungswesens. Illich spürt deshalb den Frühformen des vom Buch bestimmten Lesens nach.
Er orientiert sich am ersten Buch, das über die Kunst des Lesens geschrieben wurde, dem »Didascalicon« von Hugo von St. Victor
(um 1128).

Lesen wurde demnach nicht als Unterhaltung oder Wissensvermittlung verstanden, sondern als Suche nach Weisheit, als Sammeln von Schätzen, die man im Herzen verwahrt und als räumlich-zeitliche Matrix im Gedächtnis behält. Lesen ist weniger technische als moralische Handlung: »Nichtwissen entstammt der Schwäche; aber Verachtung für das Wissen entspringt einem bösen Willen.« (Hugo)

Die ersten tausend Jahre des Christentums ist Lesen ein memorierendes Meditieren, ein monastisches Murmeln. Leser müssen die Schrift laut lesen, um sich selbst zu hören und dann zu verstehen.
(was wohl am Fehlen der Wortabstände lag!)

Im 12. Jahrhundert vollzieht sich ein phänomenaler Wandel zum scholastischen Lesen. Techniken und Materialien (u.a. Schreibstuben, Wiederentdeckung der Kursivschrift, Weiterentwicklung von Tinte und Papier, kleinere und damit mobiler verwendbare Bücher, Indexierung der Texte und Register) verändern persönliche und soziale Verhaltensmuster in Bezug auf das Lesen. Die Verschriftlichung nimmt dramatisch zu (in England z.B. um den Faktor 80–100), es wird zitiert und kompiliert. Aufzeichnung von Weisheit wird zur Aufzeichnung von Wissen. »… aus der Partitur für fromme Murmler wurde der optisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende.« Lesehilfen wie Nummerierungen, Zwischenüberschriften und Fußnoten verändern das Seitenlayout. Die sichtbare Artikulation wird Mittel der Interpretation.

Der Rückblick von Illich auf die Wandlung von »Buch« und »Lesen« ist deshalb für Medienschaffende so interessant, weil wir erneut vor einem Umbruch stehen: die Darstellung und das Lesen von Inhalten löst sich vom Buch mit seiner zwangsweisen Linearität und tendiert zu den Bildschirmen mit den Möglichkeiten der Animation und der Vernetzung.

In seinem Buch bietet Illich einen Entwicklungsüberblick, der noch mehr Verständnis erwecken könnte, wenn er die vorchristlichen Epochen der Lesekultur mit einbeziehen würde.

Für Gestalter der visuellen Kommunikation schaut Illichs Kommentar weit über den Tellerrand hinaus. Zum einen erhellt die kompakte Darstellung die Entwicklung über Jahrtausende, zum anderen werden Themen wie »Schriftbild«, »Layout«, »Autorenschaft« in einen philosophischen Zusammenhang gestellt.

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29.11.2011