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Kreativität


Kreativität, Mihaly Csikszentmihalyi

Wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden  |  aus dem Amerikanischen von Maren Klostermann  |  Klett-Cotta Taschenbuchverlag  |  Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Creativity. Flow and the Psychology of Discovery and Invention« im Verlag HarpersCollinsPubishers, New York  |  © 1996 by Mihaly Csikszentmihalyi; © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart 1997  |  ISBN: 978-3-608-91774-1, Siebte Auflage 2007

Vorsicht ist geboten, wenn ein Psychologe sich des Themas »Kreativität« annimmt. Überhaupt ist das ein äußerst gewagtes Unterfangen. Umso dankbarer kann man Mihaly Csikszentmihalyi (sprich: Tschick Sent Mihaji) sein, dass er von einer systematischen Studie über 91 kreative Persönlichkeiten des Zeitgeschehens ausgeht und trotzdem ein verständliches und unterhaltsames Buch geschrieben hat.

Der inzwischen emeritierte Professor für Psychologie von der University of Chicago macht in seinem Vorwort sehr schnell klar, wie bedeutend die Kreativität für die menschliche Spezies ist und wie sehr unsere Zukunft von ihr abhängt. Dabei unterscheidet er die »kleine Kreativität«, die unser persönliches Leben bereichert, von der »großen Kreativität«, die die Welt auf einem wichtigen Gebiet verändert. Sein systemisches Modell, wie es zu Kreativität kommt, wird auch gleich am Anfang deutlich: »durch die Interaktion einer Kultur, die symbolische Regeln umfasst [Domäne], einer Einzelperson [Individuum], die etwas Neues in diese symbolische Domäne einbringt, und einem Feld von Experten, die diese Innovation anerkennen und bestätigen«. (S. 17)

Csikszentmihalyi beschreibt in einem ersten Teil des Buches den kreativen Prozess, in einem zweiten Teil die Lebensgeschichten der befragten kreativen Persönlichkeiten und in einem dritten Teil vier wichtige Domänen, in denen Kreativität wirkt. Angehängt ist dem Buch ein kurzer Ratgeber »Die Förderung der persönlichen Kreativität«, die Kurzbiografien der in der Studie interviewten Persönlichkeiten sowie das Interviewprotokoll.

Der systemische Ansatz von Csikszentmihalyi, dass Kreativität aus der Interaktion von Domäne, Individuum und Feld entsteht, birgt einige Konsequenzen, die Widerspruch erregen. Deutlich wird dies an Beispielen, die der Autor immer wieder zur Veranschaulichung und zum Beweis seiner These verwendet. Van Gogh wurde von seinen Zeitgenossen verkannt. Erst »als eine ausreichend große Zahl von Kunstexperten den Eindruck gewannen, dass seine Gemälde einen wichtigen Beitrag zur Kunstdomäne darstellten«, wurde seine Kreativität lebendig. »Ohne diese Reaktion wäre van Gogh geblieben was er war – ein kranker Mann, der seltsame Bilder malte.« (S. 51) Heißt dass, wir wissen heute besser, was große Kunst ist? Csikszentmihalyi greift den beim Leser aufkommenden Widerspruch auf und erklärt im Folgenden, warum seine These von der systemischen Kreativität doch funktioniert bzw. Vorteile für die Erklärung von Kreativität bietet. Zum Beispiel hält er die ständige Neubewertung der Vergangenheit für einen guten, nützlichen und tatsächlich notwendigen Prozess.

Wenn Csikszentmihalyi im ersten Teil die kreative Persönlichkeit beschreibt, erinnern die Erkenntnisse am ehesten an andere Kreativitätsforscher wie Edward de Bono oder Prof. Gertrud Höhler. Neben der genetischen Prädisposition sieht er – ganz systemimmanent – als wichtige Voraussetzung für die individuelle Kreativität den Zugang zur Domäne als auch den Zugang zum Feld. Zusammenfassend hält der Autor die Komplexität für das wichtigste Merkmal bei kreativen Menschen. Sie bringen Denk- und Handlungsweisen zusammen, die bei den meisten Menschen getrennt sind, z.B. das divergierende und das konvergierende Denken, das Spielerische und die Disziplin, Extraversion und Introversion, die Phantasie und den Realitätssinn, Leidenschaft und Objektivität oder die Offenheit und die Gerichtetheit/Geschlossenheit/Konzentration.

Bei der Beschreibung der kreativen Arbeit greift Csikszentmihalyi auf die bekannten fünf Phasen des Kreativitätsprozesses hin: Vorbereitungs-, Inkubations-/Reifungsphase, Einsicht/Aha-Erlebnis, Bewertungs- und Ausarbeitungsphase, wobei er darauf hinweist, dass am Anfang dieses Prozesses eine Problemdefinition steht und dass dieser Prozess eher rekursiv denn linear verläuft.

Wie eine Checkliste für’s Kreativsein liest sich das Kapitel über den »Flow«. Aus den geführten Interviews liest der Autor die Erkenntnis, das die Motivation für Kreative aus der Qualität der Erfahrung bei deren Aktivitäten resultiert. Neun Hauptelemente kennzeichnen dieses Erlebnis der Freude (S. 163 ff):
1. Jede Phase des Prozesses ist durch klare Ziele gekennzeichnet.
2. Man erhält ein unmittelbares Feedback für das eigene Handeln.
3. Aufgaben und Fähigkeit befinden sich im Gleichgewicht.
4. Handeln und Bewußtsein bilden eine Einheit.
5. Ablenkungen werden vom Bewußtsein ausgeschlossen.
6. Man hat keine Versagensängste.
7. Selbstvergessenheit. Paradoxerweise wächst das Selbst.
8. Zeitgefühl wird aufgehoben.
9. Die Aktivität wird autotelisch (hat das Ziel in sich selbst)

Im zweiten Teil beschreibt Csikszentmihalyi die Lebensgeschichten der interviewten Persönlichkeiten und untermauert damit seine vorangestellten Ausführungen durch konkrete Beispiele. Durch die Einteilung in »frühe Jahre«, »Lebensmitte« und »Kreatives Altern« werden die Voraussetzungen und Bedingungen für Kreativität noch einmal anschaulich dargestellt. Gleich am Anfang wieder eine provokative Konsequenz des systemischen Modells: »Kinder können ein überragendes Talent zeigen, aber sie können nicht kreativ sein, denn zur Kreativität gehört, dass man neue Denk- oder Handlungsweisen entwickelt, was wiederum voraussetzt, dass man mit den bestehenden Denk- und Handlungsweisen bestens vertraut ist.» (S. 222)

Die meisten der Befragten gaben Glück als die wichtigste Ursache ihres Erfolges an. »Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und die richtigen Leute kennenzulernen ist fast eine Grundvoraussetzung, wenn man sich einen Namen in einem Feld machen will.« (S. 266)

Im Abschnitt »Kreatives Altern« werden zwei Grundformen mentaler Fähigkeiten erläutert. Die »flüssige Intelligenz« steht für die Fähigkeit, Zusammenhänge schnell zu begreifen, schnell zu reagieren und schnell und präzise zu rechnen. Diese Form der Intelligenz ist vermutlich angeboren und relativ unabhängig von Lernerfahrungen, kann durch Tests gemessen werden, ist nach der Adoleszenz am höchsten und nimmt dann ständig ab. Die »kristallisierte Intelligenz« steht für die Fähigkeiten, Vernünftige Urteile zu fällen, Gemeinsamkeiten in verschiedenen Bereichen zu erkennen und die Anwendung eines induktiven und logischen Denkens. Sie ist eher von Lernprozessen sowie stärker von der Reflexion als vom Reaktionstempo abhängig und steigert sich normalerweise mit zunehmendem Alter.

Der dritte Teil mit der Beschreibung wichtiger Domänen vermittelt anhand von Zitaten viele Lebensweisheiten schöpferisch tätiger Menschen. Schon beschriebene Beispiele werden hier wiederholt. Überhaupt ist dieses Kapitel eine neuerliche Beleuchtung von schon Geschriebenem aus einem anderen Blickwinkel. Trotzdem ist es ergiebig, weil Csikszentmihalyi hier aufzeigt, wie durch sein Systemmodell »Domäne-Individuum-Feld« auch Besonderheiten zu erklären sind. Zum Beispiel die Entwicklung neuer Domänen wie Umwelt- und Friedensforschung durch Menschen, die die Grenzen ihrer ursprünglichen Domänen überschritten haben (»Die Domäne der Zukunft«, S. 412 ff). Oder dass gerade die fehlende Sozialisierung im eigenen Feld »den skeptischen, divergierenden Denkansatz [fördern kann,] der oft zur Kreativität führt« (S. 419).

Zum Schluss stellt Csikszentmihalyi fest, dass Schöpfungskraft und Zerstörungskraft seit jeher eng verbunden sind (S. 455) (z.B. Nuklearwissenschaften), dass die Produkte der Kreativität häufig unerwünschte Nebenwirkungen haben und dass es nicht nur gilt, die Kreativität zu steigern, sondern deren Auswirkungen einzuschätzen. Das kann mann nicht dem jeweiligen Feld überlassen, denn jedes Feld wird versuchen, möglichst viel Kontrolle unter sich zu bringen. Den Markt über die Neuerungen entscheiden zu lassen, findet der Autor auch keine Möglichkeit, da er nicht an die freie Marktwirtschaft glaubt und weil er den Markt für gegenwartsorientiert hält. Eine öffentliche Diskussion erscheint auch schwierig, da Laien das oft sehr umfangreich gewordenen Spezialwissen einer Domäne nicht mehr verstehen. Letztlich plädiert der Autor für einen überparteilichen und fachübergreifenden öffentlichen Dienst, der die Interessen der Evolution vertreten könnte.

Auch bei Überlegungen zur Förderung von Kreativität setzt Csikszentmihalyi sein Modell Individuum-Domäne-Feld ein. Mehr kreative Menschen erreicht man hauptsächlich durch optimale Voraussetzungen (des Feldes). Dazu zählt er das Angebot an Ausbildungsmöglichkeiten, eine hohe Erwartungshaltung als notwendiger Anreiz für herausragende Leistungen, ein möglichst breites Angebot an materiellen und geistigen Ressourcen, Anerkennung und Anleitung durch das Feld (Mentoren), Hoffnung und Gelegenheit auf eine produktive Laufbahn (Forschungs- und Arbeitsmöglichkeiten) sowie Belohnung (extrinsische wie intrinsische, also existenzsichernde Bezahlung wie Ruhm und Ehre). »Wenn es möglich wäre, die Begeisterung der Menschen, die wir interviewt haben, auf die nächste Generation zu übertragen, wäre ein Mangel an Kreativität zweifellos unser geringste Problem.« (S.487)

Im Anhang geht es um die »kleine« persönliche Kreativität. Zu viele Anforderungen, die uns erschöpfen, zu viel Ablenkung, Trägheit und Mangel an Disziplin sowie die Unkenntnis, was man mit der eigenen Energie anfangen soll, stehen der persönlichen Kreativität im Weg. In diesem Sinn rät der Autor dem Leser, seine Energie zu bündeln, Neugier und Interesse zu entwickeln, die Freude an den Alltagstätigkeiten zu erhöhen (Flow), nach Komplexität zu streben und divergierendes Denken zu fördern (Quantität, Flexibilität, Originalität der Ideen). »Und was letztendlich wirklich zählt, ist nicht, ob Ihr Name an einer anerkannten Entdeckung klebt, sondern ob Sie ein erfülltes und kreative Leben geführt haben.« (S. 529) Gibt es ein schöneres Schlußwort?

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29.11.2011